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Warum Führung und Karriere zu trennen sind
Der Beste seines Faches ist nicht unbedingt auch eine gute Führungskraft. Denn die Qualität einer Führungskraft hängt von anderen Faktoren ab. Wenn jemand viele Menschen führt, nur weil die Position das mit sich bringt, erzeugt er individuellen und kollektiven Schaden.
Erschienen im KMU Magazin Nr. 4/5, Mai 2019
Neue Formen der Kooperation werden landauf, landab getestet, eingeführt und umgesetzt. Wohlklingende Begriffe wie zum Beispiel Holokratie, Selbstorganisation oder NewWork befeuern die Fantasie, dass die Arbeitswelt schon bald ohne Führung auskomme. Doch das Gegenteil wird sich einstellen: Es braucht nicht weniger, sondern eine andere Führung. Und nun rächt sich die Untugend, jeweils die Besten in einem Fach zu Chefs in diesem Fach befördert zu haben. Wenn uns eine Aufgabe keine Freude bereitet, uns nicht anspricht, herausfordert, kribbelig macht, dann werden wir sie niemals wirklich gut und engagiert wahrnehmen. Solche Aufgaben rutschen auf der Pendenzenliste laufend tiefer. Dann werden wichtige Mitarbeitergespräche verschoben, neue strategische Richtungen oberflächlich kommuniziert, kaum Wert auf Integration gelegt und Potenzialentfaltung den Human Resources überlassen.
Falsche Karrieren
Darunter leiden nicht nur Anstand, Respekt und Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitenden, sondern dieses Verhalten wird sich im System weiter fortsetzen. Zum einen durch die Führenden selber, schlichtweg weil sie damit durchkommen. Zum anderen durch die Mitarbeitenden, welche mit solchen Erfahrungen in die Führungsriegen nachrutschen. Sie werden sich mit grosser Wahrscheinlichkeit genauso verhalten, denn sie haben es zuvor ja beobachten können. Und so entsteht ein betriebliches Klima, das keine qualitative Unternehmensentwicklung fördert, sondern eher den Abstieg in einen erbitterten Preiskampf einleitet, weil Innovationen fehlen, Chancen nicht erkannt und genutzt werden. Deshalb sollten sich Unternehmen mit der Führung und den damit verbundenen Aufgaben sowie der Auswahl der passenden Mitarbeitenden auseinandersetzen. Sie gestalten in ihrer Gesamtheit das für die Weiterentwicklung förderliche Klima.
Über Jahrzehnte haben wir in Unternehmen die zentrale Aufgabe der Mitarbeiterführung vollkommen falsch verstanden und auch falsch ausgebildet und positioniert. Dass jemand andere führen will, wurde faktisch vorausgesetzt, und so hat sich über die Zeit in der Gesellschaft eine äusserst schicksalsträchtige Verbindung ergeben: Die Bedeutung einer Kar riere wurde gemessen an der Anzahl der Geführten, also der Menge an Menschen, die «unter einem» arbeiten, für die man «verantwortlich» ist, für die man «sorgen» muss. Je mehr, desto bedeutender. Wenn jemand aber viele Menschen führt, nur weil die Position das mit sich bringt, der Führungsaufgabe jedoch laufend ausweicht, dann erzeugt er individuellen und kollektiven Schaden. Und wer bezahlt diesen Schaden? Zuerst einmal die Führungskraft selber, denn sie schiebt unweigerlich eine sich auftürmende Bugwelle fälliger Gespräche, geschwächter Kooperation oder unzureichender Integration vor sich her. Dann bezahlen die Mitarbeitenden, denn ihre Potenziale werden nicht ausgeschöpft und weiter entwickelt. Denn nur realisierte Potenziale weisen auf weitere Potenziale. Dann bezahlen auch Kunden, weil sie Lösungen später (oder zu spät) erhalten, denn die Führungskraft agiert als Flaschenhals. Dann bezahlt das Unternehmen, weil ihm grundsätzlich die Innovationskraft fehlt. Und schliesslich zahlt die Gesellschaft, weil das Bild der Führung nachfolgende Generationen prägen und deren Vorfreude auf diese Aufgabe schmälern wird.
Was sich ändern muss
Deshalb ist es heute höchste Zeit, sich mit der Mitarbeiterführung in Unternehmen auseinanderzusetzen. Wie könnte ein Vorgehen aussehen? Nun, die Aufgabe, das Führungsverständnis zu verändern oder zu stärken, ist vergleichbar mit der Aufgabe, den Klimaschutz zu fördern und zu stärken. Beides sind Phänomene, die sich eher auf einer Metaebene abspielen. Niemand hat Klima je «gesehen» und mit ihm interagiert. Wenn wir Klimaschutz (das Weshalb oder Wozu) betreiben wollen, müssen wir uns auf einige wenige und einleuchtende Schritte (das Wie) einigen. Das ist meist der leichtere Teil der Aufgabe. Wenn es jedoch um die konkrete Umsetzung (das Was) geht, werden Myriaden von Interessen ins Feld geführt, denen diese Umsetzung entgegenläuft und Konflikte erzeugt. Und in endlosen politischen Debatten werden Minimallösungen diskutiert, welche in der Summe einen vernachlässigbaren Impact haben werden – und das trotz einer faktischen Einigung auf der Metaebene.
Ähnlich ist es mit Führung: Es ist möglich, auf einer Metaebene Einigung zu erzielen, welche Rolle der Führung zukommen sollte (das Wozu). Über die möglichen Ansätze (das Wie) besteht dann schon mehr Divergenz, das macht dafür die Auswahl attraktiver und öffnet Raum für Experimente. Und wenn es schliesslich um konkrete Aktivitäten geht (das Was), entstehen die wildesten Diskussionen. Denn im Gegensatz zur Quantenphysik kann bei Führung vermeinltich jede und jeder mitreden. Dabei geben die meisten Führenden immer wieder zu bedenken, dass sie gar nie ausgebildet worden seien – und trotzdem wägen sich viele kompetent genug, um darüber zu entscheiden, wie zu führen sei, was funktioniere und was eben nicht.
Mitarbeitende fordern Wandel
Ganz egal ob man sich nun zur Gruppe zählt, die Führung als Nebenprodukt der Karriere akzeptiert oder sich zur Führung berufen fühlt, sollte man vermutlich das bisherige Verständnis zur Rolle und Aufgabe der Führung hinterfragen. Es ist zu klären, auf welcher Basis man führt. Das eigene Menschenbild ist zu prüfen und zu notieren, was man als Führender bewirken will und weshalb das hilfreich ist. Es sollte mit Kollegen über dieses Thema gesprochen und versucht werden, den Diskurs auf das gesamte Führungsteam zu erweitern. Denn zum ersten Mal in der modernen Geschichte stellen Mitarbeitende konkrete (und hohe) Erwartungen an Führende – nicht umgekehrt – und setzen dadurch die zwei folgenden wichtigen Impulse: Erstens werden Führende mit der Frage konfrontiert, weshalb und wozu sie eigentlich führen und was konkret sie dazu befähigt. Und zweitens werden alle jene Führenden entlarvt, die sich um sich selber gekümmert, ihre Position durch Machtspielchen gewonnen und verteidigt haben. Sie müssen erkennen, dass die Grundlagen dazu wegbrechen: Mitarbeitende machen nicht alles für (noch) mehr Lohn, das Privatleben ist ihnen mindestens ebenso wichtig wie eine Karriere, sie sagen, was aus ihrer Sicht nicht gut läuft oder was ihnen nicht passt. Sie bündeln ihren Einfluss und bewerten das Image des Unternehmens als Arbeitgeber (zum Beispiel auf Kununu), sie verlinken sich mit Konkurrenten (zum Beispiel via LinkedIn) und sie bewegen sich in (virtuellen) Referenzgruppen, denen sie teilweise mehr Bedeutung (und Loyalität) zumessen als dem Unternehmen.
Das alles hat einen bedeuten den Einfluss darauf, wie Führungskräfte ihre Rolle ausgestalten sollten und welchen Fokus sie im Unternehmen der Führung geben – nämlich anderen zu deren Erfolg verhelfen. Das ist eine valable, noble und zukunftsweisende Existenzberechtigung der Führung.«
Mehr dazu auch im Buch “Führen mit der T.I.G.E.R.-Methode”