Journal

Distanz & Nähe

Distanz und Nähe - ein Yin und Yang der Führung

Distanz unterbricht Ansteckungsketten, sodass weniger vom einen auf den anderen übertragen wird. Und gleichzeitig schwächt Distanz soziale Bindungen und damit Integration und Identifikation. Wie können Führende diese ambivalente Lage gestalten? Eine wichtige Frage – auch ganz jenseits von COVID-19.

Wer jemals eine Fernbeziehung geführt hat, weiss um die Wichtigkeit der persönlichen, physischen Treffen. Denn je seltener sich Partner sehen, desto schwächer wird die gegenseitige (soziale, emotionale) Integration. Oder anders herum: Distanz sollte durch Nähe unterbrochen werden. Denn in Zeiten der Nähe wird all jenes aufgefrischt und genährt, was die Beziehung erhält und stärkt. Was auf Distanz bestehen bleiben soll, muss seine Wurzeln im Beet gemeinsamer Erfahrungen schlagen können. Und diese gilt es laufend zu erneuern.

Distanz braucht Nähe.

Viele Führende sind zwar zu recht begeistert, wie rasch Unternehmen den Sprung von Nähe zu Distanz (z.B. in die digitale Welt) schaffen, wie zuverlässig die meisten Prozesse laufen und wie einfach sich Mitarbeitende in der neuen Welt bewegen. Doch solche positiven Erlebnisse sind bloss Früchte früherer Investitionen in Vertrauen, Zugehörigkeit und Wertschätzung. Sie stärken die soziale Bindung zwischen den Mitarbeitenden und zum Unternehmen. Sie machen Unternehmenskultur, Führungsverständnis und Werte spürbar. Nur wie lange hält diese Wirkung an?

Es ist ganz offensichtlich, dass Vertrauen, Zugehörigkeit und Wertschätzung regelmässig erneuert werden müssen. Das erfahren nun alle jene Führenden, denen diese drei Komponenten nichts bedeuten oder die bisher darauf verzichtet haben, bewusst und konsequent in sie zu investieren. Sie erleben die Distanz als Kontrollverlust, als Angriff auf ihre Rolle und sehen ihr Selbstverständnis oder ihre Relevanz wanken. Und die Mitarbeitenden? Die wollen gar nicht mehr an ihren ursprünglichen Arbeitsort zurückkommen. Man kann es ihnen kaum verübeln. Darunter leiden nicht nur Performance und Engagement, sondern eben auch Integration und Identifikation. Und das ist gefährlich: Distanz kann zum Bumerang werden und Beziehungen zu und zwischen Mitarbeitenden schwächen – die raison d’être (die Bedeutung) grundsätzlich in Frage stellen.

Auf Distanz reduziert sich eine Beziehung auf ihre Essenz: die individuelle Bedeutung. In ihr entfalten sich die drei Komponenten (Vertrauen, Zugehörigkeit, Wertschätzung). Bedeutung macht den Unterschied, stärkt das Engagement – und erlaubt Distanz.

Gerade erleben viele Führende, dass sich Beziehungen zu und unter Mitarbeitenden ausdünnen und sie selber der aktiven Beziehungspflege nicht (immer) ausreichend gewachsen sind. Woher auch? Oftmals haben Unternehmensbereiche (wie beispielsweise die interne Unternehmenskommunikation, die Personalabteilung oder Mitglieder der Geschäftsleitung) diese Beziehungen gestaltet. Folglich haben sie sich selber eher auf die Planung, Koordination oder Steuerung von Arbeitsprozessen konzentriert. Während auf der einen Seite nun der Digitalisierungsschub diese Aufgaben automatisiert, vereinfacht oder gar eliminiert, auf der anderen Seite sich alle Mitarbeitenden voneinander entfernen (also auch zur Unternehmenskommunikation, zur Personalabteilung, zur Geschäftsleitung), wird offensichtlich, dass diese Beziehungen an Bedeutung verlieren. Mitarbeitende kümmern sich um sich selbst, klassische Vorgesetztenrollen verschwinden. Ein Grund mehr, weshalb einige Führende befürchten, überflüssig zu werden.

Mitarbeitende kümmern sich um sich selbst. Klassische Vorgesetztenrollen verschwinden.

Umso notwendiger ist es nun, dass Führende ihre Rolle erweitern und neu die Bedeutung von Beziehungen stärken. Das ist nicht etwa löblicher Selbstzweck, sondern treibt eine für Unternehmen wichtige Entwicklungsspirale an: Sobald Mitarbeitende der Beziehung zum Unternehmen eine positive Bedeutung geben, desto offener kooperieren sie, integrieren andere und anderes. Sie engagieren sich, kombinieren Stärken, um weiter zu kommen. Sie suchen und pflegen einen direkten Austausch, was ihnen ermöglicht, aus Fehlern und auch voneinander zu lernen. Dadurch sind sie in der Lage, einander zu helfen und sich gegenseitig zu ermutigen, trotz Rückschlägen vorwärts zu gehen, weitere Schritte zu wagen. Mit folgenden Ergebnissen:

  • Mitarbeitende verstehen ihren Beitrag, werden selbständiger, mutiger.
  • Die Organisation lernt, sich selber zu helfen, wird beweglicher und resistenter.
  • Das Unternehmen kann mehr bewirken, wird bedeutender und bekannter.

Die Wirkung bedeutender Beziehungen ist also nicht zu unterschätzen. Sie helfen Unternehmen, attraktive Chancen pro-aktiv zu gestalten und sie wappnen Mitarbeitende und sich selber für die Arbeit und Führung auf Distanz.

Die eigene Führungsrolle anpassen.

Sie wollen sich dieser Aufgabe stellen? Nützen Sie diese drei Tipps:

  • Setzen Sie ein physisches Treffen durch. Ohne Agenda, denn das Treffen ist das Ziel. Solange Sie nicht gemeinsam ein Office belegen dürfen, spazieren Sie mit ihren coffees-to-go zu einem ruhigen Platz. Bleiben Sie bewusst informell, fragen Sie nach den Gemütszuständen, fördern Sie den Austausch darüber. Sie können auch Tandems bilden, die ihre Erlebnisse teilen und Vorschläge, Ideen entwerfen.
  • Wenn Sie hybride Modelle ausprobieren (wenn also die einen Mitarbeitenden vor Ort und die anderen Mitarbeitenden anderswo arbeiten), entsteht eine ungleiche soziale Kohäsion (siehe u.a. McKinsey Quarterly, Juli 7, 2020). Planen Sie deswegen bewusst informelle (individuelle oder gemeinsame) Gespräche.
  • Nützen Sie elektronische Kollaborationstools. Mit Padlets oder Mentimeter engagieren Sie Mitarbeitende auch in digitalen Meetings, lancieren co-kreative Prozesse und teilen Ergebnisse.

Häufige Fehler im Umgang mit Distanz und Nähe:

  • Bequemlichkeit – Führende ziehen sich auf einfache Argumente zurück: «Die sind ja allesamt erwachsen genug, sollen sich selber um sich kümmern, ich bin doch nicht deren Unterhalter, …»
  • Rastlosigkeit – Führende sind dauernd online besetzt. Ob der Freude an der neuen Effizienz, überwiegt die Freude am Pendenzenabbau statt die Freude an der (kreativen) Kooperation.
  • Schonhaltung – Führende vermeiden direkte Fragen. Online-Interaktionen fordern von allen Beteiligten mehr Struktur und Klarheit. Ohne direkte Fragen entsteht Unsicherheit über das gegenseitige Verständnis oder Verantwortlichkeiten (siehe u.a. McKinsey Quarterly, Juli 2, 2020; Beitrag inklusive Videos und Podcasts)

More articles