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First Time Right
First Time Right - ein überholter Anspruch?
In den letzten Monaten mussten wir unsere Ansprüche an Planbarkeit oder belastbare Prozesse anpassen und uns vermehrt auf Experimente einlassen. Vermutlich wird sich daran so bald nicht viel ändern. Trotzdem (oder deswegen) sollten gerade Führende weiterhin Qualität und Zuverlässigkeit fordern.
Experimente bieten viele Vorteile. So lassen sie Mitarbeitenden die Freiheit, sich einer Aufgabe spielerisch, statt analytisch zu nähern. So werden weniger ausgeschlossen. Und in Experimenten werden Grenzen (Denken, Handeln, Kultur) ausgelotet, Hürden bzw. Gärten dank vielseitiger Kooperation überwunden. Keine Überraschung also, wenn Experimente gerade als DIE Antwort auf Dynamik, Unsicherheit und Komplexität gehandelt werden (siehe u.a. McKinsey, October 5, 2020; Podcast und Transkript).
Ein Experiment ist keine Party.
Dabei wird meines Erachtens ein Aspekt nicht gebührend beleuchtet: Trotz der offenen Form des Experiments, der gemeinsamen Suche nach Antworten oder der einkalkulierten Möglichkeit des Scheiterns sind Experimente – zumindest was Kooperation, Engagement und Verantwortlichkeit anbelangen – keine Parties. Ein Experiment sollten wir nicht einfach entspannt geniessen, unangenehme Gesprächsthemen vermeiden, zu aufdringlichen Menschen ausweichen, beobachtend an der Bar abhängen oder uns verabschieden, wenn es langweilig wird.
Experimente sind Veranstaltungen, an denen sich alle Beteiligten wirklich, wirklich Mühe geben und nach bestem Wissen und Gewissen dafür sorgen sollten, dass dieses Experiment möglichst auf Anhieb liefert, für was es geschaffen wurde. Experimente sind für Unternehmen oft mit erheblichen Risiken verbunden. Schon allein deshalb ist der Anspruch nach «first time right» berechtigt.
Fordern Sie das Beste von Mitarbeitenden. Nur dann machen sie notwendige Fehler - statt bloss unnötige.
Wenn die Teilnehmenden nicht den richtigen Spirit zeigen, können selbst engste Kontrollrhythmen oder umfangreichste Reviews ein Scheitern nicht vermeiden. Wenn Beteiligte nicht versuchen, auf Anhieb ein überdurchschnittliches Resultat zu erzielen, machen sie bloss unnötige statt notwendiger Fehler. Achten Sie also darauf, dass Sie mit dem Begriff «Experiment» auch gleich Ihre Erwartungshaltung vermitteln. Nur scheint sich diese zum Spielverderber zu entwickeln vor dem Hintergrund neuer Arbeitsmodelle (New Work, agile Mindset, …) oder Arbeitsphilosophien, nach denen Mitarbeitende insbesondere denjenigen Aufgaben nachgehen sollen, die ihnen am meisten Spass bereiten. Zwar macht das durchaus Sinn und ist mehrfach wissenschaftlich belegt. Nur reicht dieser Spass meiner Sicht nicht, um die unternehmerische Bedeutung von Experimenten wirklich zu transportieren.
Kunden sind anspruchsvoller, ungeduldiger und undifferenzierter geworden. Eine schon fast toxische Mischung für Spiel, Spass und Experimente. Trotzdem sind Experimente heutzutage unerlässlich, damit Unternehmen Chancen entdecken, weiterkommen und sich für Mitarbeitende interessante Möglichkeiten ergeben, zu lernen, zu wachsen, ihr Potenzial zu erweitern. Und deswegen ist der Anspruch an «first time right» ein hilfreicher Steigbügel für Führende, die den Spagat wagen zwischen spielerischer Unvoreingenommenheit einerseits und eigenverantwortlicher Qualitätsorientierung andererseits, die verstehen, dass sich Unternehmen auch in unsicheren und komplexen Zeiten entwickeln sollten (statt bloss durchzuhalten).
Die Bedeutung von Experimenten für die Unternehmensentwicklung ist unbestritten. Gerade deswegen sollten Führende nicht nur für passende strukturelle Rahmenbedingungen sorgen, sondern eben auch mit konkreten Erwartungen dafür sorgen, dass sich Mitarbeitende von Beginn weg an einem hohen persönlichen und gemeinsamen Anspruchsniveau orientieren. Dadurch werden die folgenden Ergebnisse möglich:
- Sie realisieren und erweitern die Potenziale der Mitarbeitenden. Wenn Sie Ihre Erwartungen zwar sachte jedoch auch konsequent erhöhen, werden Sie diejenigen finden, die noch einen Schritt weitergehen können: Nur erschlossene Potenziale weisen auf mögliche weitere Potenziale.
- Mitarbeitende geben sich nicht mit der erstbesten Lösung zufrieden, suchen nach einem besseren, eleganteren, wirksameren Weg. Dabei bauen sie gemeinsam auf die bisherigen Vorschläge, auf der Suche nach dem nächst-besseren Niveau.
- Mitarbeitende erkennen, dass sie für eine Mitarbeit in einem Experiment nicht zwingend über ausserordentliche Talente (siehe u.a. Colvin, Geoff (2019): Talent is overrated) verfügen müssen. Mit Disziplin und fokussiertem Einsatz wachsen viele über sich hinaus. Betrachten Sie einmal Ihre eigene Biographie: In welchen Momenten, an welchen Aufgaben oder unter welchen Bedingungen sind sie wirklich und nachhaltig gewachsen?
Sie möchten sich dieser Aufgabe stellen? Hier sind drei Tipps, die Sie dabei unterstützen:
- Bilden Sie möglichst vielfältige Teams. Diese werden rasch verstehen, dass sie Ihre Erwartungen nur mit einer offenen Kooperation und transparenter Kommunikation, jedoch keinesfalls im Alleingang erreichen werden. Heterogene Teams legen Hierarchien, Herkunft und Status rascher ab als homogene Einheiten – schlichtweg weil sich niemand darum schert.
- Machen Sie die “Obligation to Dissent” (siehe u.a. Taylor, Bill (2017): True Leaders Believe Dissent Is an Obligation) zu einem zentralen Baustein einer ambitionierten und dynamischen Kooperation. Sie verlangt, dass Beteiligte stets aufgefordert sind, ihre Meinungen offen zu äussern und Aufmerksamkeit auf hemmende Zustände zu lenken (wie beispielsweise Mistrauen, Heuchelei oder Fehlverhalten). Fazit: «People become fearless» (Robin Richards, CEO CareerArc Group).
- Legen Sie eine ambitionierte Deadline fest. So ergeben sich fokussierte Diskussionen, aus denen sich Ideen und Vorschläge entwickeln, die genau dann vorliegen, wenn sie auch gebraucht werden. In meiner Zeit als Consultant haben solch enge Zeitfenster zwar regelmässig zu kurzen Nächten geführt – jedoch immer auch zu überraschend guten Lösungsvorschlägen.
Und hier noch drei beobachtete Fehler im Umgang mit dem First-Time-Right-Anspruch:
- Überforderung – «Wir können das»; mit diesen Worten hat Angela Merkel den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland ein Experiment verkauft, ohne es weiter zu definieren. Das war zwar eine mutige Ansage – und gleichzeitig eine enorme Überforderung für viele.
- Kein übergreifender Erfahrungsaustausch – Experimente laufen zwar selten gleichartig ab. Doch sind die Beteiligten deswegen keinesfalls Einzelkämpfer. Sie sollten beispielsweise voneinander lernen, wie sie mit Unberechenbarkeiten oder internen Spannungen umgehen oder wie sie die Resilienz und Zuversicht aufrechterhalten.
- Egozentrische Motivation – Im Austausch mit Führenden begegne ich regelmässig Menschen, die mit «coolen» Experimenten weniger die Entwicklung des Unternehmens verfolgen, als sich selber persönlich zu positionieren und ihr Image zu pflegen – ein Ressourcenverschleiss ohnegleichen.