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ICH vs. WIR

ICH vs. WIR: das Kollektiv als Auslaufmodell?

Individualisierte Erlebniswelten steigern persönliche Forderungen von Mitarbeitenden an Unternehmen. Doch diese benötigen eine integrierende, kollektive Perspektive, um insbesondere Transformationen zu meistern. Wie kann das Führenden noch gelingen?

Sich der Individualisierung entgegenzustellen, ist vermutlich wenig ratsam. Denn Druck erzeugt meistens Gegendruck. Und führt in eine Abwärtsspirale. Menschen ändern ihr Verhalten aus zwei Gründen: Entweder weil sie müssen oder weil sie wollen. Ich rate Führenden deshalb, zwei Phänomene der Individualisierung etwas genauer zu betrachten und für die kollektive Perspektive zu nützen.

Beide sind mit dem Trend zur kontinuierlichen Selbstoptimierung verbunden. Er bewegt enorm viele Menschen und beeinflusst deren Verhalten – ganz unabhängig von der Dimension. Ob es nun darum geht, gesünder zu essen, effizienter zu trainieren, ruhiger aufzutreten oder sich tiefer entspannen zu können: All diesen Ambitionen ist gemein, dass sie sich nicht durch Erfolg alleine nähren, sondern dazu ein kontinuierliches, bestätigendes und vor allem rasches Feedback benötigen. Dieses Bedürfnis erfüllen nicht nur digitale Helfer, sondern vor allem spezifische Communities, deren Mitglieder sich laufend gegenseitig kommentieren und bewerten. So bestätigen mir Freunde und Bekannte, dass sie nach einem eigenen Beitrag auf Instagram gleich mehrmals pro Minute prüfen, wer wie darauf reagiert hat – ein unqualifiziertes «Daumen hoch» als Gradmesser der eigenen Entwicklung?

Damit zurück zu den beiden Phänomenen, die auch Führende für die Gestaltung einer kollektiven Perspektive nützen können:

  1. Mitarbeitende haben zwar den Mut, persönliche Inhalte in einer anonymen Community zu teilen. Sie befürchten jedoch, damit nicht anzukommen. Sie suchen Bestätigung.
  2. Mitarbeitende pflegen mit (neuen, digitalen) Referenzgruppen eine emotionale Verbindung über Werte, Einstellungen oder Motive. Sich suchen Zugehörigkeit.

Dass Unternehmen einen schweren Stand haben gegen die fluiden, raschen und attraktiven digitalen Referenzgruppen, mag unterschiedliche Gründe haben. Doch müssen Unternehmen keine Follower finden: Sie haben alle bereits einen Vertrag unterschrieben. Leider nützen nur wenige diesen Vorteil.

Du bist gut – oder die Suche nach (sofortiger) Bestätigung.

Regelmässiges Feedback ist das vermutlich wirksamste Führungshilfsmittel schlechthin – und das unterbewertetste zugleich. Dabei nehmen sich Jahr für Jahr Tausende von Führenden in den unterschiedlichsten Kursen, Seminaren und Workshops immer wieder vor, mehr und besseres Feedback zu geben – ohne dass sich dann wirklich viel ändern würde.

Das liegt zum einen an der Übungsanlage (auf die ich an dieser Stelle nicht näher eingehe) und zum anderen daran, dass das Feedback-Thema in Kursen eher aus Sicht des «Gebenden» statt des «Erhaltenden» besprochen wird. Es geht also eher um die Frage, wie Führende mehr Feedback in ihre Routinen integrieren statt um die Frage, welchen Wert ein Feedback für die Beziehung und den Aufbau einer Relevanz hat und sich deshalb für alle Beteiligten lohnt (sodass Führende mehr Feedback geben wollen).

Wenn es darum geht, Individualisierung für das Unternehmen zu nützen, sollten Führende verstehen, dass Mitarbeitende laufend Feedback suchen. Sie wenden sich denjenigen Quellen zu, die davon nur so sprudeln: Instagram, Facebook, Pinterest, Snapchat, etc. Nur ist deren Feedback binär (Daumen hoch oder runter) und unterstützt nicht gezielt. Trotzdem wirkt es fast magnetisch.

Wenn Führende also Feedback geben, dann immer hinsichtlich einer Absicht, die Unternehmen und Mitarbeitende miteinander teilen – beispielsweise das (angeleitete, betreute, kontinuierliche) Besserwerden. Dieses Feedback übertrifft das binäre Feedback sozialer Medien qualitativ bei Weitem und ist wesentlich interessanter, weil dichter und dynamischer. So gelingt es Führenden zudem, Feedback als kulturellen Baustein zu etablieren statt als copy-paste Einwegbotschaft.

Mein Tipp: Legen Sie gemeinsam mit Mitarbeitenden fest, wie und zu was gegenseitiges Feedback genutzt werden soll. Das erleichtert es Ihnen, Bring- und Holschuld zu klären sowie gegenseitige Erwartungen. Skizzieren Sie Grenzen (z.B. Ihre eigene zeitliche Verfügbarkeit) und vereinbaren Sie beiderseitige Verantwortlichkeiten. Nur weil viele nach Feedback dürsten, bedeutet das nicht, dass Sie als Führende diese Suche nicht aktiv gestalten dürften – und sollten.

Sei anders – oder die Suche nach einem attraktiven Schwarm.

Selbstoptimierung benötigt nicht nur kontinuierliches Feedback, sondern auch eine hohe Relevanz der Community, die Feedback gibt. Im digitalen Raum ist eine solche Relevanz rasch verfügbar und Algorithmen fördern eine leichte Integration mit «think-alikes».

Eine Community ist indes nur dann relevant, wenn sie auf individuelle Beiträge bestätigend reagiert. Das intensiviert die Interaktion der Mitglieder untereinander und stärkt wiederum die Relevanz der Community. Diese erfolgskritische Ko-Abhängigkeit zwischen Feedback geben und Feedback erhalten bedingt, dass stets positiv kommuniziert wird.

Solche Wohlfühloasen stärken einerseits die emotionale Zugehörigkeit und andererseits den Glauben, sich zum Guten zu entwickeln und sich dadurch von anderen (also nicht Mitglieder derselben Community) zu unterscheiden. So entsteht eine virtuelle Heimat, in welcher die Mitglieder schwarmähnliche integriert sind: Alle dürfen sich frei bewegen, trotzdem reagieren alle ähnlich.

Hinweis: In meinem Buch «Führen mit der T.I.G.E.R.-Methode©» habe ich mich im Kapitel «Integrate» umfassender mit der Thematik der Zugehörigkeit auseinandergesetzt. Sie möchten mehr dazu erfahren? Dann melden Sie sich ungeniert bei mir. Ich freue mich darauf.

Je weniger sich Unternehmen um die soziale Kohäsion und kulturelle Integration der Mitarbeitenden kümmern (also diese Ko-Abhängigkeit bedienen), desto bedeutender werden Gruppen, welche diese Aufgabe (stärker) wahrnehmen. Und desto schwieriger wird es, negatives Feedback zu geben, Kritik zu üben und alternative Wege zum Ziel zu vereinbaren und zu fordern.

Gerade in Unternehmen geht es nicht nur um die individuelle Optimierung, sondern um Geschäftsentwicklung, Innovation und den Umgang mit Komplexität. Dazu benötigen Unternehmen eine kollektive Perspektive, also Mitarbeitende, welche Grenzen der individualisierten Selbstoptimierung akzeptieren und in der Lage sind, Eigeninteressen zugunsten des Kollektivs zurückzustellen.

Mein Tipp: Tauschen Sie sich mit Mitarbeitenden darüber aus, was wann und weshalb relevant sei. Fragen Sie sich anschliessend, wie Sie (auch im Namen des Unternehmens) diese Relevanz erzeugen und halten können. Sodass Zugehörigkeit entsteht. Sodass das Unternehmen als relevanter Partner für die eigene Weiterentwicklung wahrgenommen wird und der Einfluss externer, digitaler Gruppen tendenziell sinkt.

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