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Stop! Es wird nicht wie früher.

Nein, hier folgt kein weiterer post-pandemic-new-normal Beitrag. Sondern ein Aufruf, Mitarbeitenden endlich klaren Wein einzuschenken: Gewohnte Ruhe und Stabilität im Arbeitsalltag werden sich nicht mehr einstellen – zumindest nicht wie früher. Und das hat einen Einfluss auf die Rolle und Interaktion der Führenden.

Viele Unternehmen haben in zahlreichen Seminaren und Workshops mit ihren Führenden neue Führungsverständnisse erarbeitet. Unweigerlich mussten sich Führende mit Ihrer Rolle und ihrem eigenen Selbstverständnis auseinandersetzen.

Daraus ergab sich eine generelle Verschiebung des Fokus vom ICH zum DU, vom Arbeiten IM statt AM System und vom Monolog zum Fragen und Zuhören. Zusammenfassend sorgen Führende nun dafür, dass Mitarbeitenden ihre Aufgaben erledigen, ihre Beiträge leisten und ein grösseres Ganzes erkennen können.

Doch es zeichnet sich bereits eine weitere Anforderung ab: Sie sollten Mitarbeitenden helfen, gesund zu bleiben. Weshalb? Und wie geht das?

Von der Angst, auf der falschen Seite zu stehen.

Unternehmen fördern Mitarbeitende darin, sich dort zu engagieren, wo sie am meisten Wirkung erzeugen oder die grösste Befriedigung empfinden. Sie organisieren sich weitegehend selbst, suchen konsequent nach (positivem) Feedback und nützen dazu vor allem digitale Medien, Plattformen und Communities. Sie sind deswegen always-on und im ständigen Austausch und Vergleich.

Das Motto «the winner takes it all», das sich vor allem auf den Wettbewerb unter Start-Ups bezieht, beeinflusst Verhalten, Loyalität und Ansprüche der Mitarbeitenden: Wer will schon auf der Seite der Nicht-Gewinner stehen? Deswegen werden kleine Erfolge umgehend publik gemacht, werden Zertifikat an Zertifikat gereiht und wird erhebliche Zeit für die Selbstdarstellung aufgewandt.

Dies alles erzeugt monströse Informationsfluten, enorm komplexe soziale Umfelder und äusserst dynamische soziale (und bewertende) Netzwerke. Letztlich erleben viele Mitarbeitende einen beispiellosen (sozialen) Druck.

Beispiel: Ein Kunde hat letztes Jahr alle Mitarbeitenden befragt zu deren individuellem Stressempfinden bei der Arbeit. Die Auswertung war überraschend: Mitarbeitende zwischen 20 und 25 Jahren haben sich subjektiv als am meisten gestresst bezeichnet. Erwartet hätte der Kunde jedoch, dass seine (älteren) Projektleitenden am meisten Stress empfinden, weil sie täglich im Spannungsfeld zwischen Kundenanforderungen, Mitarbeiterentwicklung und wirtschaftlichen Zielen stehen. Die Auseinandersetzung mit den Ursachen dieses Stressempfindens lagen unter anderem in der Unfähigkeit, sich abzugrenzen (und sich nicht zu verzetteln), in der Angst vor Unsicherheit (und sich deswegen viele Optionen offen zu halten) und im Bedürfnis nach stetem positivem Feedback (und deswegen in möglichst attraktiven Projekten an möglichst spannende Aufgaben zu arbeiten – und das selbstredend möglichst perfekt).

Solange Unternehmen spannende Projekte lancieren oder gewinnen, erscheinen sie für aktuelle und potenzielle Mitarbeitende attraktiv. Denn sie wollen Neues lernen und sich dadurch für nächste Herausforderungen qualifizieren, sich für andere Winner in Stellung bringen. Fehlen solche Projekte, werden Mitarbeitende ungeduldig und ziehen weiter.

Von der Angst, etwas zu verpassen.

FOMO («Fear Of Missing Out») fördert die subjektiv gefühlte Überforderung mit dem Leben im Generellen und mit der Arbeit im Speziellen. Für Menschen, die unter dieser Angst leiden, ist eine gut gelöste Aufgabe weniger wichtig als nichts zu verpassen (wobei hier «gut» durchaus relativ zu verstehen ist, also im Bezug zu vereinbarten Kriterien). Nur, wenn beispielsweise die Deadline in einem Projekt den Fokus und die volle Konzentration aller Mitarbeitenden beansprucht, entsteht ein substanzieller und emotionaler Zielkonflikt. Dieser hält Mitarbeitende in sogenannten Paradoxen Schlaufen gefangen – ohne individuellen Beitrag geht es nicht (denn er vermittelt Bedeutsamkeit), mit einem solchen Beitrag aber eben auch nicht (denn er erhöht das Risiko, etwas zu verpassen).

Beide hier kurz skizzierten Ängste fördern in der Summe eine mentale Erschöpfung. Führende sind in einer ausgezeichneten Position, diese Erschöpfung zu erkennen und anzusprechen. Selbstverständlich sind Sie in Ihrer Rolle als Führende keine Therapeuten. Sie sind und bleiben jedoch verantwortlich für die Gesundheit am Arbeitsplatz – auch wenn sich dieser gerade zunehmend in private Räumlichkeiten verschiebt.

Ich bin in der privilegierten Lage, zahlreiche Führende zu beobachten und mit ihnen über ihre Herausforderung zu sprechen. Ich stelle in Bezug zur Gesundheit fest, dass sie versuchen, Mitarbeitende zu schonen, also deren Belastung zu reduzieren, indem Sie Arbeiten selbst übernehmen, oder anderen (robusteren) Mitarbeitenden übertragen – mit aus meiner Sicht eher unglücklich Folgen:

Erstens schwächen Sie sich selbst. Denn Sie reduzieren ihren Fokus und damit ihre Wirkung. Andere Themen kommen zu kurz, was mittelfristig zu weiteren Engpässen führen wird.

Zweitens schwächen Sie die (vermeintlich) robusteren Mitarbeitenden. Selbstverständlich nützen wir das Prinzip der Lastverteilung bei Ausfällen oder Ferienvertretungen. Das Wissen um die begrenzte Dauer hilft, diese Situation besser zu ertragen. Führende verpassen oft, diese zeitliche Begrenzung zu definieren. Sie erleichtern dadurch eine Art Zweiklassengesellschaft.

Drittens zementieren Sie den Glauben gerade in den Verschonten, dass es wieder besser werden wird. Und das ist schlichtweg nicht der Fall - ausharren ist keine Option. Geht es nicht eher darum, sich (offiziell) von bisherigen Ansprüchen oder Erwartungen zu verabschieden?

Wenn Führende schonend eingreifen (so gut das auch gemeint ist), reduzieren sie einerseits die Möglichkeit zu dieser Erkenntnis zu kommen und sie fördern andererseits die Hoffnung, dass es wieder wie früher wird. Das sollten sie unterlassen, denn sie setzen dadurch falsche Signale für die Weiterentwicklung der Mitarbeitenden.

Erfolgversprechender ist aus meiner Sicht eine Diskussion darüber, welche bestehenden Ansprüche einem gesunden Arbeiten im Weg stehen. Vielleicht starten Sie damit, dass Sie Mitarbeitende aufschreiben lassen, welche ungeschriebenen Gesetze im Team gelten. Haben Sie Ihre Organisationseinheit wirklich aufgeräumt und ausgemistet? Wie gut gelingt es Ihnen, bisherige Tabu-Themen anzusprechen oder den Elephant in The Room? Denn wenn es eh nicht wird wie früher, weshalb sollte es sich lohnen, alten Ballast mitzutragen?

Gehen Sie einen Schritt weiter und fragen Sie Mitarbeitenden, welche Sorgen sie in der Arbeit belasten. Achten Sie dabei auf die oben skizzierten zwei Ängste. Suchen Sie dann im Unternehmen oder auch extern nach Unterstützungsmöglichkeiten zu Stärkung der individuellen Resilienz.

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