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Werden Sie unproduktiver!

Als Führende:r sind Sie die unproduktivste Arbeitskraft im Unternehmen. Sie besetzen weder eine zentrale Rolle in Kernprozessen, noch haben Sie beispielsweise einen direkten Einfluss auf die Beschaffung kritischer Ressourcen. Und die Zusammenarbeit mit Ihnen kostet andere Zeit und hält sie auf. Mein Tipp: Machen Sie mehr davon!

In den 80er Jahren schwappten von der Automobilindustrie die beiden Konzepte der kontinuierlichen Verbesserung (Kaizen) und der Just-In-Time Produktion auf andere Industrien über. Unternehmen wurden auf Ineffizienzen untersucht und dem Primat möglichst verschleissfreier Herstellungsprozesse unterworfen. Treiber hierfür waren erste ERP-Systeme, die Wertschöpfungsketten abbildeten und dadurch einer neuen Funktion im Unternehmen den Steigbügel geschaffen haben: dem Controlling.

Fortan wurde Unternehmen an allen möglichen und unmöglichen Stellen der Puls gemessen. Erste Anzeichen von Krankheiten wurden umgehend therapiert. Dadurch hat sich leider auch der Fokus in Unternehmen verschoben: Weg von Führung und hin zu Management, weg von Chancen, hin zu Problemen. In diese Zeit fällt auch die sogenannte Theorie X, die im Wesentlichen davon ausgeht, dass sich Menschen durch Anreize gezielt steuern («managen») liessen – ein erster Versuch also, unberechenbares Verhalten der Menschen in geordneten Bahnen zu halten.

Das hat in der Tat eine Weile funktioniert und zu einem enormen Wohlstand geführt – aber auch zu enormen Unterschieden und – das scheint mir wesentlich – zu einem Wunsch vieler Mitarbeitenden, aus solchen engen Korsetts auszubrechen, den eigenen Handlungs- und Gestaltungsraum zu erweitern, sich selbständiger in Arbeitsprozessen zu bewegen. Und so finden sich Unternehmen in einer Situation, in der sie bestehenden und künftigen Mitarbeitenden möglichst einfach (siehe #attitude Nr. 20) darlegen müssen, weshalb sie in diesem Unternehmen arbeiten sollten (und nicht in einem anderen).

Doch ist genau diese Aufgabe komplett unproduktiv und erzeugt selten eine direkt messbare Wirkung, entzieht sich also irgendwelchen therapie-fokussierten Skalen. Das haben Unternehmen in den 80er Jahren übrigens auch schon eingesehen und verstanden, dass sie sich nicht nur blind nach Effizienzkriterien orientieren, sondern für ihr gutes Funktionieren auch bewusst «notwendigen Verschleiss» produzieren sollten: Investitionen zur Stärkung von Vertrauen, Bindung und Freude. Doch wer soll diesen Verschleiss erzeugen? Gibt es dazu prädestinierte Stellen oder Funktionen im Unternehmen?

Die Antwort kennen Sie – und deshalb mein Appell: Werden Sie unproduktiver und erzeugen Sie möglichst viel notwendigen Verschleiss und damit Konnektivität und Gravitation. Hier drei konkrete Vorschläge:

Sensibilisieren Sie Führungsteams

Leider verlieren sich Führungsteams immer wieder in operativen Tiefen. Das ist zwar verständlich, denn wer kümmert sich nicht gerne um das, was er/sie versteht. Dennoch wünschen sich Führungsteams, dass in ihren Meetings mehr auch strategische oder gestalterische Themen Eingang finden – das ist Ihre Chance!

Besuchen Sie die Meetings Ihrer Führenden. Unterbrechen Sie Routinen allein durch Ihre Präsenz und sprechen Sie über die Bedeutung, notwendigen Verschleiss zu erzeugen. Ermutigen Sie Führende, unproduktiv zu wirken und das feine Tuch zwischen allen Mitarbeitenden und um das Unternehmen herum zu weben (in meinem Buch spreche ich über die Pflege der Membran).

Führen Sie Eintrittsgespräche

Der moderne Arbeitsalltag zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die einzelnen Mitarbeitende nicht nur an verschiedenen Orten arbeiten, sondern auch in verschiedenen Projekten und in unterschiedlichen Rollen. Dadurch entstehen individuelle Rhythmen, die immer schwieriger zu synchronisieren sind. Die Ausnahme bietet das Eintrittsgespräch. Oftmals ist der erste Tag eher administrativ und wird von vielen Unternehmen minutiös geplant, sodass sich die neue Mitarbeiterin möglichst rasch orientieren und bewegen kann. Oder in anderen Worten: Sie ist an diesem Tag recht gut fassbar.

Verlangen Sie ein Zeitfenster von 15 bis 30 Minuten im Einführungsprogramm und nützen Sie die Chance, den neuen Mitarbeitenden in Ihren Worten die Kultur, die Werte und die Art und Weise der Kooperation zu erläutern. Idealerweise in einem persönlichen Gespräch. Oder bilden Sie Gruppen, sollte die schiere Menge neuer Mitarbeitenden keine andere Möglichkeit lassen. So oder so: Sie sind der oberste Kulturminister im Unternehmen und sollten jede Chance nützen, Ihre Rolle wirksam umzusetzen.

Übernehmen Sie Ausbildungsmodule

Unternehmen fördern die off-the-job Weiterentwicklung der Mitarbeitenden mit unterschiedlichen Inhalten: Fachkurse, Kommunikationstrainings und Führungskompetenzen finden sich regelmässig in den internen Angeboten. Sie werden von externen oder internen Spezialisten durchgeführt.

Diese Veranstaltungen eignen sich ganz besonders, «notwendigen Verschleiss» zu produzieren. Übernehmen Sie selbst eine solche Veranstaltung und nützen Sie die Chance, Brücken zu Mitarbeitenden zu bauen oder zu verstärken. Ich mache regelmässig die Erfahrung, dass selbst langjährige Mitarbeitende erstaunlicherweise immer auch Fragen haben, die eigentlich schon sehr viel früher hätten beantwortet werden sollen. Zudem werden Sie dank solchen Veranstaltungen erkennen, wie durchlässig die Silos tatsächlich sind bzw. die Interdisziplinarität im Unternehmen auch gelebt wird.

Am einfachsten scheint es mir, wenn Sie eine Rolle und eine Aufgabe im Rahmen der internen Führungskräfteentwicklung besetzen. Das aktuelle Umfeld verunsichert viele Führende und ermöglich Ihnen, die aus Ihrer Sicht hilfreichen Informationen persönlich zu übermitteln und in unstrukturierten Q&A Sessions den Führenden zur Verfügung zu stehen. Andere Möglichkeiten ergeben sich in Kursen zu unternehmerischen Themen wie der Kundenakquise, der Konfliktlösung oder der strategischen Geschäftsentwicklung. Suchen Sie sich aus, was Ihnen am Herzen liegt, am besten zu Ihnen passt und Ihnen Freude bereitet.

FAZIT: Selbstverständlich ist «notwendiger Verschleiss» alles andere als unproduktiv. Dennoch rückt er gerne in den Hintergrund. Meine drei Vorschläge schaffen Ihnen unaufgeregt Chancen, Ihre notwendige Unproduktivität produktiv zu nützen.

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