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Was erwarten Sie?
Eindeutig formulierte Erwartungen erleichtern die Führung. Denn sie ergänzen Ziele mit einer persönlichen, emotionalen Komponente, welche Initiative und Eigenverantwortlichkeit fördert.
Mit äusserst hoher Regelmässigkeit wird man im Verlaufe eines internationalen Fussballturniers mindestens von einem Trainer vernehmen, dass – nach dem das ihm anvertraute Team die minimalsten Qualifikationen erfüllt hat – nun alles möglich sei. Was meint er damit? Dass der Erwartungsdruck nun wegfalle und man frei aufspielen könne. Alles was ab jetzt erreicht werde (oder eben auch nicht) sei eigentlich positiv. Mit anderen Worten: Erwartungen stehen einem freien, unbeschwerten Ausüben einer beruflichen Tätigkeit im Weg. Seltsam, denn eigentlich ist es gerade umgekehrt. Erwartungen funktionieren wie mentale Latten, die es zu überspringen gilt und die deswegen Kreativität freisetzen und Energie fokussieren.
Möglicherweise denken Sie nun, dass zwischen einer Profifussballerin und einer Mitarbeiterin erhebliche Unterschiede bestehen. Während die eine beispielsweise im Rampenlicht steht und von vielen Unbekannten laufend be- oder verurteilt wird, ist die andere eher geschützt und es geht ihr auch nicht darum, zu gewinnen, sondern eine zuverlässige Leistung zu erbringen. Auf den ersten Blick stimmt das vermutlich. Auf den zweiten Blick scheint fraglich, ob der kontinuierliche Druck, den Job zu behalten, die Familie zu ernähren, keine gröberen Fehler zu machen, nicht mindestens so belastend ist wie die (kurze) Angst vor dem Penaltyschiessen. Doch was hat das mit Führung zu tun?
Es gibt Menschen, die nichts erwarten, um nicht enttäuscht zu werden. Das mag sich rein persönlich gut anfühlen. Doch muss man dieser Taktik vorwerfen, dass sie ausweicht und sich nicht den Fragen stellt, was möglich wäre und wie es erreicht werden könnte. Erwartungen rücken zukünftige Ergebnisse in den Bereich des Möglichen. Sie fördern die kreative Auseinandersetzung mit Ansätzen, Wegen oder Aktivitäten, um das zukünftig Mögliche eben möglich zu machen. Als Führende bauen Sie ständige virtuelle Brücken zwischen heute und morgen. Und sie setzen darauf, dass Mitarbeitende eigeninitiativ Wege suchen und eigenverantwortlich die notwendigen Schritte wagen. Vermutlich werden Sie nun argumentieren, dass dafür konkrete Ziele ausreichten. Doch Ziele sind bloss die logische Konsequenz einer (strategischen) Initiative. Sie zeigen notwendige Schritte. Doch deswegen sind Mitarbeitende nicht automatisch auch bereit dazu. Erwartungen nähren diese Bereitschaft, denn Studien zeigen, dass Eigeninitiative, Durchhaltewillen und konsequentes Training signifikant steigen, wenn eine relevante Person überzeugt ist, dass wir bestimmte Ergebnisse tatsächlich erreichen werden – selbst, wenn sie für uns (noch) unerreichbar scheinen. Es ist exakt diese persönliche, emotionale Komponente, welche Erwartungen von Zielen unterscheidet. Sie beeinflussen unsere Zuversicht und was wir selbst von uns erwarten. Ob Sie nun diese relevante Person sein wollen oder nicht, als Vorgesetzte werden Sie diese Rolle nicht abstreifen können. Kurz: Sie sind direkt dafür verantwortlich, ob Mitarbeitende über ihren Schatten springen, über sich hinauswachsen, sich weiterentwickeln – oder eben nicht.
Wie Sie das machen? Seien Sie aufmerksam! Denn Erwartungen stützen in der Regel auf bisherige Resultate. Offene oder neue Potenziale erkennen Sie nur dann, wenn Sie sich mi den bisher realisierten Potenzialen auseinandersetzen – und daraus ihre Erwartungen ableiten. Mitarbeitende leiten ein heikles Kundenmeeting überraschend souverän? Hier öffnet sich eine Möglichkeit, Erwartungen aufzubauen. Das hat weder mit Sklaventreiberei noch Manipulation zu tun. Sondern allein damit, dass wir alle einen sinnvollen und geschätzten Beitrag leisten wollen. Erwartungen helfen uns, beides zu erreichen. Wenn Sie als Führende auf explizite Erwartungen an Mitarbeitende verzichten, dann verpassen Sie, was möglich wäre. Und das sollten Sie – insbesondere vor sich selbst – gut begründen können.
Auf diesen Gedanken mag man nun einwenden, dass Erwartungen nicht bei allen Mitarbeitenden funktionieren. Dass man als Vorgesetzte auch einmal zufrieden sein sollte, mit dem was man hat oder mit dem, was erreicht wurde. Stimmt - solange diese Zufriedenheit nicht mit Schonung verwechselt wird. Die heutige Dynamik und Komplexität verlangen, dass wir nicht nur Arbeiten erledigen, sondern uns fragen, ob wir dieses «Erledigen» nicht schlauer, schneller wirksamer gestalten können. Unsere Erwartungen beziehen sich also nicht bloss auf das WAS, sondern auch auf das WIE: Ein Vorgehensvorschlag sollte nicht nur das Problem eines Kunden lösen, sondern beispielsweise auch Anknüpfungspunkte für eine weitere Kooperation mit dem Kunden bieten. Wir sollten also diese Denk- und Handlungsweise von uns selbst und von anderen erwarten. Sonst lassen wir Potenziale ungenutzt, verpassen wir Chancen oder gar den Anschluss.
Also: Was erwarten Sie?